Rede zur Pogromnacht am 9. November 2023 in der Synagoge Augsburg

Rede zur Pogromnacht am 9. November 2023
in der Synagoge Augsburg

- es gilt das gesprochene Wort -

Lieber Herr Rabbiner Asher Goldshmid,
sehr geehrter Herr Präsident Mazo,
lieber Herr Landespolizeipräsident Michael Schwald,
sehr geehrte Anwesende!

Wir haben eine kleine Tochter, die gerade drei Jahre alt geworden ist. Sie hat noch nicht einmal verstanden, dass sie jüdisch ist und was Judentum eigentlich ist. Sie wächst zweisprachig auf und spricht ganz unbedarft, auch unterwegs, von Israel oder übt ihre ersten hebräischen Worte. Sollen wir es ihr verbieten, weil es auf den Straßen Augsburgs oder im Bus zu gefährlich ist, sich offen als Israeli oder als Jude zu zeigen?

Diese Worte stammen nicht aus einem Brief oder einem Tagebuch aus den 1930er Jahren. Ich habe sie in einer E-Mail gelesen, die mich am 20. Oktober erreicht hat. Es ist die E-Mail einer jungen Frau, die voller Sorge ist um Familie und Freunde in Israel, die aber auch – und es entsetzt mich, dies an diesem Tag und an diesem Ort aussprechen zu müssen – Angst um ihre Familie und ihre jüdischen Freunde in Deutschland, in Augsburg hat.

Die Worte dieser Frau erschüttern mich und sie beschämen mich.

Jahr für Jahr kommen wir in hier in der Augsburger Synagoge zusammen, um eines der dunkelsten Kapitel unserer Geschichte, der Pogromnacht am 9. November 1938, zu gedenken. Jahr für Jahr hören wir davon, wie vor nunmehr 85 Jahren Synagogen in Flammen gesetzt, Geschäfte jüdischer Bürgerinnen und Bürger geplündert und tausende Menschen misshandelt wurden. Jahr für Jahr hören wir, fast schon ritualisiert wie bei der Schriftlesung, dass diese Synagoge nicht etwa aufgrund der Toleranz und Brüderlichkeit der Augsburger Bevölkerung, sondern aus der Angst, dass ansonsten die gegenüberliegende Tankstelle explodieren könnte, nicht niederbrannte. Landauf, landab war die Pogromnacht ein Akt brutaler Gewalt des Nationalsozialismus, der sich gegen unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger richtete und uns eine schreckliche Erinnerung daran hinterließ, wohin Hass und Intoleranz führen können.

Es sind diese Sätze, die eine Oberbürgermeisterin jährlich zu diesem Anlass wiederholen sollte und muss. Denn die Erinnerung und Vergegenwärtigung an das Geschehene hilft uns, uns geistig und moralisch, aber auch politisch zu rüsten.

Indem wir uns unserer Geschichte bewusst sind, verpflichten wir uns dazu, die Saat des Friedens zu säen und das Gedenken an die Opfer des antijüdischen Hasses lebendig zu halten.

Und doch: was sind diese Worte wert, wenn eine junge Mutter Angst um ihr Kind hat, weil es im Bus hebräische Worte spricht?

Was, wenn diese Worte diejenigen nicht erreichen, vielleicht nie erreicht haben, die sie angehen?

Was, wenn diese Worte nur der Selbstversicherung derjenigen dienen, die sie aussprechen? 
Diese Frage treibt mich seit Jahren um, seit wir unsere wunderbare Demokratie durch starke rechtspopulistische, politische Kräfte in Gefahr sehen.

Seit dem 7. Oktober 2023, dem Überfall der Hamas auf Israel, und anschließenden antisemitischen Demonstrationen auf deutschen Straßen aber noch viel mehr. Und unter neuen Gesichtspunkten.

Wie lange darf man zusehen, bis etwas passiert, das man irgendwie hat kommen sehen?

Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt, aufzustehen und zu sagen: bis hierhin und nicht weiter!

Wir stellen fest – auf der Straße, in den sozialen Medien – dass der Krieg der HAMAS gegen Israel und die Verteidigung Israels gegen die Angriffe einmal mehr Projektionsfläche sind für antiisraelische und antijüdische Ressentiments. Dass Antisemitismus sich immer ungenierter Bahn bricht, sei es ein völkisch-nationalistischer, ein nur notdürftig als sogenannter „Antiimperialismus“ verbrämter oder – und auch dieser Aspekt muss benannt werden – ein arabisch-muslimisch geprägter.

Diese Feststellung zwingt uns zu der Beschäftigung mit der Frage: Was muss eine Gesellschaft aushalten?

Als Juristin und Beamtin muss ich festhalten: Was die Gesetze gestatten, haben wir auszuhalten.

Das Recht setzt uns allen die Grenzen: Das Herunterreißen und Verbrennen einer Flagge ist mit Strafe bedroht. Das Brüllen volksverhetzender Parolen ist mit Strafe bedroht. Und das Versammlungsrecht gestattet und gebietet es uns, Demonstrationen zu beschränken oder als ultima ratio zu verbieten, wenn die öffentliche Sicherheit gefährdet wird.

Als Stadtoberhaupt und als Bürgerin kann ich es jedoch hierbei nicht bewenden lassen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Am Rechtsstaatsprinzip als tragende Säule unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist nicht ein Millimeter zu rütteln.

Aber die Frage nach dem, was wir aushalten müssen, nach der Toleranz, hat nicht nur die skizzierte rechtliche Dimension. Paragrafen helfen uns zwar, Klarheit im Handeln und Denken zu schaffen, wenn es darum geht, was erlaubt ist und was verboten. Sie beantworten uns aber nicht die Frage, wie weit darf unsere Toleranz reichen in einer offenen Gesellschaft, die sich ihre Werte hart erkämpft hat, wenn andere sie angreifen

Ich denke, in den vergangenen Wochen haben wir in diese Diskussion eine ganz neue Sichtweise bekommen. Die vergangenen Wochen haben dazu beigetragen, dass wir unsere Überzeugungen ganz neu überdenken und neu verteidigen müssen.

Falsch verstandene Toleranz hilft uns da nicht weiter.

Muss ich als Politikerin, als Vertreterin eines freien, toleranten Wertesystems jede Art von Jubel einfach so hinnehmen? Nein.

Wo also beginnt und wo endet Meinungsfreiheit? Wo beginnt und endet die Toleranz eines auf Freiheit ausgerichteten politischen Systems?

Wohlmeinende werden nun sagen: Es gibt darauf keine einfache Antwort. Ich hingegen sage: Die Antwort ist sehr einfach, und sie lautet:

Keine Toleranz der Intoleranz!

Ich meine, sie endet immer dort, wo Demokratiefeindlichkeit erkennbar wird.

Die Feinde der offenen Gesellschaft, so unterschiedlich sie sich geben, haben alle eine Gemeinsamkeit: Ihr mörderischer Hass. Auf Juden, auf Frauen auf Minderheiten.

Und wer solchen Hass in Deutschland äußert, oder diesen Hass gar in politische Taten übersetzt, und seien sie nur symbolischer Art, dem müssen wir als freie Gesellschaft entschieden entgegentreten.

Keine Toleranz der Intoleranz!

Ich wiederhole hier gerne, was ich schon zur Amtseinführung von Rabbiner Asher Goldshmid gesagt habe:

Dass sich Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland nicht sicher fühlen können, so wie es in den letzten Wochen auch in unserer Stadt spürbar ist, das ist unerträglich. Unerträglich für mich persönlich und unerträglich für uns als Gesellschaft.

Ich spreche allen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern hiermit erneut meine persönliche und die der Stadt Augsburg unverbrüchliche Solidarität aus. Wir tolerieren keinen Antisemitismus in unserer Stadt. Wir verurteilen den Terror der Hamas in Israel und die Gräueltaten am israelischen Volk. Dies haben die demokratischen Kräfte im Augsburger Stadtrat in einer gemeinsamen Erklärung bekräftigt.

Und wir sind in Gedanken bei allen, die Angehörige oder Freunde verloren haben oder die um Menschen bangen, die als Geiseln genommen wurden. Allen, die in diesen Tagen Angst um ihre Angehörigen und Freunde haben müssen. Bei allen, die im Nahen Osten unschuldig Opfer geworden sind.

Die Sicherheit Israels, aber auch die Sicherheit von Jüdinnen und Juden hierzulande, ist aufgrund unserer Geschichte immerwährende Verpflichtung.

Das dürfen aber nicht nurfeierliche Worte bleiben.

Wir müssen unseren Werkzeugkasten der Demokratieverteidigung unter dem Eindruck der Vorkommnisse neu zusammensetzen. Wir müssen ihn inspizieren, neu bestücken und mit frischer Kraft benutzen. Wir müssen unsere immerwährende Verpflichtung in Taten übersetzen. 

Aus was besteht dieser Werkzeugkasten?

1. Entschiedene Wachsamkeit gegenüber Extremismus: Die Wegbereiter der Novemberpogrome waren verbaler Hass, Ausgrenzung und das, was wir heute als Extremismus bezeichnen. Und es begann vor der Augen aller, mitten in unseren Städten, in den Vereinen und Nachbarschaften. Staat und Gesellschaft müssen Extremismus in jeglicher Form mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entschieden entgegentreten.

2. Förderung von Vielfalt: Es ist unsere Verantwortung, eine Gesellschaft zu schaffen, die Respekt und Vielfalt fördert. Aber auch hier gelten Regeln. Die Einhaltung der Menschenrechte ist unverhandelbar.

3. Ausschluss von Intoleranz und Demokratiefeindlichkeit: Wer die Werte unseres freien Zusammenlebens nicht respektiert, muss die Härte unseres Rechtssystems spüren.

4. Politische Teilhabe: Es liegt an uns Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen, dass demokratiefeindliche Kräfte keine Oberhand gewinnen – und das nicht nur an den Wahlsonntagen.

5. Erziehung und Bildung: Wir lassen uns nicht vom Weg abbringen, unsere Erinnerungskultur zu leben und zu manifestieren. Das Lernen über die Geschichte und das Lernen aus der Geschichte ist entscheidend. Sie ermöglicht es uns, die Vergangenheit zu verstehen und Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen.

6. Menschlichkeit: Angesichts der Grausamkeiten, die während der Novemberpogrome geschahen, ist es wichtig, uns daran zu erinnern, dass jede Person unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion ein Recht auf Würde und Respekt hat. Empathie und Mitgefühl müssen in unserer Gesellschaft gelebte Werte sein.

Am wichtigsten jedoch ist

7. Nicht schweigen und nicht zuschauen: Zivilcourage zeigen – sei es bei der Beobachtung, wenn die israelische Flagge am Rathausplatz heruntergerissen wird oder bei Diskussionen im Freundes- und Bekanntenkreis. Haltung zeigen und dagegenhalten. Denn es war, wie Petra Bahr in der Zeit schreibt, eben nicht Schicksal, das vor 85 Jahren den Beginn der Shoa markiert hat, sondern Überzeugung, Passivität, Angst, Unberührtheit oder die Mischung aus allem, was zu diesem Zivilisationsbruch führte.

Rabbiner Henry Brandt seligen Angedenkens, unser Augsburger Ehrenbürger, lehrte uns: "Die Worte, die wir wählen, und die Taten, die wir setzen, haben die Kraft, die Welt zu verändern."

Heute, an diesem Tag des Gedenkens an die Pogromnacht am 9. November, erinnert uns sein Vermächtnis daran, dass unsere Sprache und unsere Taten entscheidend sind, um eine Welt des Friedens und der Toleranz zu erschaffen.

Einer Toleranz, die Freiheit schenkt, und nicht nimmt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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